Press Reviews / A Linear Thought, Førstepersonental, AB+

Jazz'n'more
A Linear Thought, AB+, Førstepersonental+1
Christof Thurnherr, 2018

Die drei aktuellen Veröffentlichungen werfen ganz unterschiedliche Schlaglichter auf das Schaffen des Zürcher Saxophonisten. Doch so verschieden sie klingen, so klar spricht aus ihnen die Idee, die Tobias Meier mit seiner freien Kunst verfolgt: die Körperlichkeit des Klangs.

Auf "AB+" spielt Tobias Meier in der Formation Cold Voodoo neben dem Kontrabassisten Silvan Jeger. Zwei Mal eine gute Viertelstunde Musik, die – beispielsweise im ersten Stück – ganz unprätentiös mit einer unterschwelligen Bassline beginnt, über der ein flatternder Saxophonklang zu schwirren anfängt. Die Linie, der die Bläserstimme folgt, bleibt lange Zeit eine Vermutung, bis sich gewisse Elemente herauskristallisieren, variierende Wiederholungen auf eine Struktur hindeuten und der Plot langsam Fahrt aufnimmt. Das Stück endet auf dem Höhepunkt der Intensität, aber ohne überbetonten Klimax, ganz einfach da, wo alles Erwähnenswerte gesagt ist.
Im Duo Forstepersonental+1 mit dem dänischen Perkussionisten und Sound-Tüftler Christian Windfeld wird das Abstrakte mit dem Konkreten verbunden. Fremde, undefinierbare Klänge interagieren mit Geräuschen von Kühen, Vögeln, Zügen und städtischem Hintergrundrauschen.

Wieder ganz andere Noten werden schliesslich auf "A Linear Thought", einem Duett der beiden Vokalartisten Dalia Donadio und Berni Doessegger, angeschlagen. Hier tritt Tobias Meier als Komponist in Erscheinung. Seine Vorgaben und Anweisung an die beiden ausführenden Künstler animiert diese zu klanglichen Explorationen. Stimmliches wechselt ins Geräuschhafte, Klang und Zischlaute stehen sich gegenüber, klare Mehrstimmigkeit und organisch erzeugte Schwingungen sind hier die Elemente, die vielsagend auf eine dahinterliegende Struktur deuten.

KÖRPERLICHKEIT DES KLANGS

So unterschiedliche Beschreibungen diese drei Werke evozieren, so klar treten doch einige verbindende Elemente hervor, die Meiers Musik prägen. Immer scheint es ihm eher um die Textur zu gehen, als um die Form, eher um das Spüren, als um das Darstellen, eher um das Empfinden, als um das Verstehen. Damit geht es Meier um die Dichotomie zwischen Geist und Körper. Allerdings sucht er nicht nach einer fremden, vielleicht einer archaischen Form des Ausdrucks, wie sie aus der Musik anderer Kulturen bekannt ist, ist er seiner eigenen Verwurzelung in der abendländischen, westlichen Tradition sehr wohl bewusst. "Musik zu machen hat für mich vielmehr etwas mit Befreiung zu tun; wenn ich mich ausdrücke, möchte ich etwas loswerden – ohne dies, macht Musik für mich keinen Sinn", erklärt er das Gefühl, das ihn antreibt. "Mit Cold Voodoo zum Beispiel spielen wir oft lange Stücke, nicht selten 45 Minuten ohne Unterbruch. Dabei wird das Musikmachen zu einem sehr physisch wahrnehmbaren, sehr körperlichen Erlebnis – das Bewusste – die Idee – rückt in den Hintergrund. Aber ganz beseitigen möchten wir sie dabei nicht; wir sind uns unserer Verwurzelung in der abendländischen Tradition durchaus bewusst und auch, dass wir uns nie vollständig von ihr lösen können."

OFFENHEIT ALS STRATEGIE

Einerseits sind also Befreiung, Freiheit oder auch Offenheit wichtige Elemente in Meiers künstlerischem Ausdruck. Diese wirken sich auch auf die "sprachlichen" Mittel aus, die er dabei nutzt: "Einen Raum aus organisiertem Klang zu gestalten, der sich in der Zeit entfaltet, muss die aktive Mitarbeit des Hörers miteinbeziehen." Mit diesem Gedanken, veröffentlicht auf seiner Homepage, nimmt Meier eine seit den 1970er-Jahren vor allem durch die Literaturkritik eingeführte Erweiterung der allgemeinen Kommunikationstheorie auf. Und wenn Musik als eine Form der Kommunikation angesehen wird, lässt sich diese auch auf diese Kunstform übertragen.
Umberto Eco, einer der bekanntesten Vertreter eines kollaborativen Verständnisses des Kommunikationsprozesses, ging in seinem 1979 erschienenen Büchlein "Lector in fabula" davon aus, dass jede Nachricht unvollständig sei, dass jeder "Text" durchsetzt sei mit Lücken, die durch die Mitarbeit des Lesers gefüllt werden müssen. Diese Lückenhaftigkeit einer Botschaft sei – nach Eco – kein Mangel. Vielmehr seien gerade die Lücken der Ort, an dem am wirksamsten kommuniziert werden könne, indem die interpretierende Mitarbeit des Rezipienten miteinbezogen wird. Es ist der Leser, der diejenigen Inhalte beiträgt, die mittels konkreter kommunikatorischer Strategien – eindeutig definierter Begriffe, vollständiger Beschreibungen usw. – nur schwer, oder gar nicht, zu übermitteln sind.
Eine offene Struktur kann also dazu führen, dass klarer kommuniziert wird, als wenn der Interpretation des Hörers enge Grenzen gesetzt werden. Meier sieht in dieser Theorie Parallelen zu seinem eigenen Verständnis von Musik. "Mit meiner Musik versuche ich nicht zu bestimmen, was beim Hörer ankommt. Ich möchte ihn vielmehr in eine bestimmte Richtung lenken und ein Stück weit offenlassen, wohin ihn meine Musik genau führt. Musiker, die allzu angestrengt versuchen, die Kontrolle über die Wirkung ihrer Musik zu behalten, laufen Gefahr, einem ganz und gar pathetischen Gestus zu verfallen."

Format als Aussage

Der zweite zentrale Aspekt von Meiers Schaffen ist die Körperlichkeit, die er auf allen erdenklichen Ebenen zu verwirklichen sucht. Zum Beispiel in der Verpackung seiner Musik: Seine Kompositionsarbeit "A Linear Thought" und das Duo mit Christian Windfeld erscheinen als Vinyl-Single, "AB+" von Cold Voodoo auf Kassette. "Während der letzten 20 Jahre war die CD relativ unangefochten das üblichste Format, auf dem Musik publiziert wurde. Es ist aber aus verschiedenen Gründen sehr fraglich, ob zu Recht. Denn davor war beispielsweise die Abtastrate – bei der CD normalerweise 44'100 Hz, eine relativ willkürliche technische Grösse – kein Thema. Mit dem Aufkommen trägerloser Formate wurde nun wieder mit höheren Auflösungen experimentiert und deren Wirkungen auf die Wahrnehmung von Musik ist noch viel zu wenig erforscht."
Daneben kann die künstlerische Aussage mit der Wahl des passenden Formats aber auch zusätzlich betont werden. "Bei 'A Linear Thought' beispielsweise, macht die Veröffentlichung als einfache Single die Klänge persönlicher. Die beiden kurzen Stücke gewinnen durch deren Isolierung an Bedeutung, indem sie nicht neben anderen Teilen stehen und sich nicht gegen sie behaupten müssen. Dass Vinyl oder Kassetten gewendet werden müssen, hat für mich zudem einen poetischen Effekt: Die beiden Seiten können in Relation zueinander gesehen werden, der zweite Teil wird zur Antwort auf den ersten. Solche Beziehungen können ein wichtiger Teil der Aussage sein, die ich mit zwei Stücken machen möchte."
Meiers Reflexionen stellen das vielstimmige Lamento über das Verschwinden herkömmlicher Formate wie der CD oder der LP in ein neues spannendes Licht, denn sein Verständnis vom Umfang seiner Gestaltungsmöglichkeiten als Musiker gehen offensichtlich weiter als bei vielen anderen.

Die Empfindug Des Künstlers

Es ist üblich, einem Musiker eine Rolle zuzuschreiben, diejenige des Instrumentalisten, des Komponisten, des Orchesterleiters, des Produzenten. Auch wenn Tobias Meier oft mit dem Saxophon auftritt, transzendiert auch hier sein Selbstverständnis diese Grenzen und lässt sie fast als bedeutungslos erscheinen. "Ich habe eigentlich nie das Gefühl, ein Sideman zu sein. Ich glaube, ich habe noch nie ein Projekt gemacht, bei dem ich nicht das Gefühl hatte, dass das Ergebnis auch voll meine Musik ist – ob ich von jemand anderem oder von mir etwas spiele, oder ob ich komponiere und andere ausführen lasse, kommt für mich aufs Gleiche heraus." Die Single "A Linear Thought" ist ein passendes Beispiel dafür. "Obwohl ich die Musik nicht selber ausführe, fühle ich mich immer noch sehr nahe dran. Ich empfinde keinen grossen Unterschied, ob ich eine Idee nun selber mit meinem Instrument zum Klingen bringe, oder ob meine Idee andere zum Klingen bringen. Zum einen hängt das sicher damit zusammen, dass ich die Musiker sehr gut kenne, für die ich die Stücke geschrieben habe. Aber ob ich direkt Musik mache oder mediatisiert – ich empfinde die Musik auf jeden Fall auch als meinen ganz eigenen Ausdruck."